Chronobiologie – die Wissenschaft der Lebensrhythmen

Chronobiologie_BildchenSämtliche Vorgänge im Körper verlaufen rhythmisch. Neben dem Schlaf-Wach-Rhythmus folgen Atmung, Herzschlag, Blutdruck, Stoffwechsel mehr oder weniger einem regelmäßigen Muster. Für das Wohlbefinden sind nicht nur einzelne Rhythmen von Bedeutung, sondern ihr Zusammenspiel und ihre Anpassung auf unterschiedliche Belastungen. Mit der Herzratenvariabilität lässt sich auch betrachten, wie harmonisch sie zusammen wirken. Bei Störungen erhöht sich das Risiko für Herzkrankheiten, Diabetes oder Krebs. Mit einer Wiederherstellung der natürlichen Rhythmen lassen sich Heilungsverläufe positiv beeinflussen.

Die Wissenschaft, die sich mit diesen Lebensrhythmen befasst, wird als Chronobiologie bezeichnet. Ich habe mich für diesen Beitrag mit Professor Dr. Maximilian Moser aus Österreich verabredet. Er ist Humanphysiologe und Chronobiologe am Institut für Physiologie der Medizinischen Universität Graz. Außerdem leitet er das Human Research Institut in Weiz.

Ein natürlicher Rhythmus bestimmt das Leben

Schlafen und wachen sind die augenfälligsten Rhythmen in unserem Leben. Lange Zeit hat sich die Chronobiologie vorwiegend mit dieser Tagesrhythmik befasst. Mittlerweile weiß man, dass es viele Prozesse im Körper gibt, die einer zeitlichen Ordnung unterliegen. Der auffälligste Rhythmus ist der 24-stündige, der als circadianer Rhythmus bezeichnet wird, weil er beim Menschen etwas länger als 24 Stunden dauert, wenn keine äußeren Zeitgeber einwirken. Aber auch schnellere, ultradiane Rhythmen können im Körper gemessen werden: “Angefangen vom Nervensystem, das die schnellsten Rhythmen erzeugt, über Herzschlag und Atmung bis zur langsamen Tätigkeit des Stoffwechsels erzeugt jedes Organsystem seinen eigenen “Klang”. Alle folgen einem rhythmischen Ablauf, der Sekunden bis Wochen und Monate andauern kann”, erklärt Professor Moser.

Der Impuls zur Interaktion kann von außen kommen, wie z. B. durch das nachlassende oder wiederkehrende Licht, oder ganz unabhängig von äußeren Einflüssen sein, wie z. B. beim Herzschlag- und Atemrhythmus. Experten sprechen bei äußeren Wirkfaktoren von Zeitgebern. Der Begriff wurde von dem Mediziner und Verhaltensphysiologen Jürgen Aschoff (1913 – 1998), einem der ersten Chronobiologen, geprägt. Er untersuchte die Reaktionen auf den Entzug des natürlichen Tagesrhythmus.

Das Bunker-Experiment von Aschoff

In seinem berühmten Bunkerversuch untersuchte Aschoff , wie unser Schlaf-Wach-Rhythmus ohne Zeitgeber funktioniert. Für mehrere Monate wurde eine Gruppe Studenten in einem Bunker von äußeren Zeitgebern isoliert. Während dieser Zeit konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Wenn sie Hunger hatten, drückten sie auf einen Kopf und sie bekamen – über eine Schleuse – Essen. Das Einzige was sie nicht hatten, waren Informationen über die Tageszeit.

Der Lebensrhythmus der Student verschob sich während ihrer Zeit im Bunker pro Tag um etwa eine Stunde nach hinten. Bei diesem Experiment entdeckte Aschoff, dass es so etwas wie eine innere Uhr geben muss. Sie funktioniert unabhängig vom äußeren Tag-Nacht-Rhythmus, braucht aber die Außenreize zur Synchronisierung der inneren Steuerung. Er kam zu der Erkenntnis, dass das Licht offensichtlich der wichtigste Zeitgeber ist, gefolgt von der Nahrungsaufnahme und den sozialen Interaktionen.

“Die inneren Uhren sind in jeder Zelle und sogar in den Genen verankert. Man weiß heute bereits, dass die Aktivität praktisch aller Gene rhythmisch organisiert ist. Eigentlich findet sich im Körper kein physiologischer Parameter, der nicht einem Rhythmus folgt”, ergänzt Professor Moser.

Störungen der inneren Uhr

Alle Zeitgeber, die zur falschen Zeit auftreten, stören den natürlichen Rhythmus. Wenn ein ähnliches Licht wie am Morgen mit dem typisch hohen Blauanteil beispielsweise am Abend einwirkt, gerät die innere Uhr aus dem Takt. Das Licht von Fernsehern, Computerbildschirmen und Energiesparlampen beeinflusst am Abend den natürlichen Ablauf des Zur-Ruhe-Kommens. Nicht nur der Schlafbeginn wird verzögert, auch alle anderen Rhythmen im Körper kommen durcheinander.

“Man muss sich das so vorstellen, dass es zwischen den Organen eine Art Verständigung über diese Rhythmen gibt. Die Prozesse im Körper greifen ineinander und die Organe sprechen miteinander über diese Rhythmen. Dieser Fahrplan des Organismus wird bei einer Störung des natürlichen Tagesablaufes gestört”, erklärt Professor Moser.

Leider ist ein Leben gegen den natürlichen Rhythmus in der heutigen Leistungsgesellschaft nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Der Aufmerksamkeitszyklus wird gerne übergangen. Alle zwei Stunden flacht er ab, um sich dann wieder zu steigern. Bleiben kurze Pausen (etwa 10 Minuten) aus, führt es langfristig zur Leistungsminderung. Auch auf andere wiederkehrende Bedürfnisse wie z. B. Hunger und Durst wird oft nur unzureichend reagiert. Aber auch Tätigkeiten zum falschen Zeitpunkt wie z. B. ein sehr spätes Abendessen oder intensiver Sport zu später Stunde, sorgen im Körper eher für Aufruhr als für Nachtruhe. Bedenkt man, dass viele Menschen der “Eulen”-Fraktion angehören, kommt für sie der Arbeitsbeginn zu früh. Die Folge ist ein Schlafmangel, der sich im Lauf der Arbeitswoche aufsummiert. “Lerchen” erweisen sich hingegen für Nachtarbeiten als ungeeignet.

Wenn das Leben aus dem Takt gerät

Was mit Schlaf- und Essstörungen, Energielosigkeit bis hin zu Depressionen als erste Hinweise auf ein Abweichen vom natürlichen Rhythmus beginnt, endet mit Erkrankungen, die zu Haupttodesursachen unserer Zeit zählen. Professor Moser: “Krebserkrankungen treten beispielsweise verstärkt auf, wenn die biologischen Rhythmen gestört sind. Schichtarbeit und ein anhaltendes Jetlag, wie z. B. bei Piloten, führt zu einer erhöhten Krebswahrscheinlichkeit. Bei Frauen steigt das Risiko für Brustkrebs und bei Männern für Prostatakrebs um jeweils 50 Prozent. Das Darmkrebsrisiko ist bei Menschen erhöht, die in ihrem Arbeitsalltag ständig unter großer Anspannung stehen und nicht für Ausgleich sorgen. Auch für den Herzinfarkt gibt es ähnliche Zahlen.”

Herzrhythmusflexibilität = HRV plus Chronobiologie

Im Herzschlag spiegeln sich die viele Körperrhythmen wieder. Mit Hilfe der Herzratenvariabilität (HRV) lässt sich zeigen, wie gut der Körper ihnen folgen kann. Vor allem Langzeit-Messungen geben Auskunft über das Wechselspiel der einzelnen Rhythmen. Der Begriff Herzrhythmusflexibilität bringt für Professor Moser die Bedeutung des Phänomens viel besser zum Ausdruck. Er umfasst neben der Herzratenvariabilität auch die Chronobiologie, also die Rhythmen und ihre Interaktionen.

Der Puls-Atem-Quotient gibt Auskunft über die Abstimmung

Bei der chronobiologischen Messung spielt der Puls-Atem-Quotient eine große Rolle. Betrachtet wird das Verhältnis, wie viele Herzschläge pro Atemzug stattfinden. Dabei ist wichtig, ob das Ergebnis ganzzahlig ausfällt oder nicht. Professor Moser mit den Feinheiten: “Vier Herzschläge auf einen Atemzug sind Zeichen für eine harmonische Abstimmung zwischen diesen Körperrhythmen. Ist das Ergebnis beispielsweise 4,3 zu 1 oder 4,1 zu 1, dann sind Herzschlag und Atmung nicht gut aufeinander abgestimmt und mehr Energieaufwand ist notwendig, um den Alltag zu meistern. Man kann den Organismus auch mit einem Musikinstrument vergleichen: Jedes Organ entspricht einer Saite und sollte harmonisch auf die anderen Saiten abgestimmt sein.”

4 zu 1 ist ein interessantes Verhältnis. Bei den meisten Menschen stellt es sich während der Tiefschlafphase ein. Die Atmung selbst schwingt im Verhältnis 4 zu 1 zum Blutdruck. “Das Zusammenwirken der Rhythmen ist wichtig, nur einem gut koordinierten Organismus ist es möglich, langfristig gesund und leistungsfähig zu bleiben. Auch bei Abweichungen im Krankheitsfall begünstigt das Wiedererlangen der natürlichen Schwingung einen schnelleren Heilungsverlauf”, so der Chronobiologe.

Zum eigenen Rhythmus zurückfinden

Es gibt Möglichkeiten, entgleiste Rhythmen zurückzuführen. “Die wichtigste Voraussetzung”, so Professor Moser, “ist die Entschleunigung und die rhythmische Gestaltung des Tages- und Wochenablaufes. Es gibt zusätzlich spezifische Therapieangebote wie etwa Kunsttherapie, Eurythmie oder Sprachgestaltung, um z. B die Schlafqualität zu verbessern. Sie können individuell nach ärztlicher Anweisung gewählt werden. Wir fanden heraus, dass die Eurythmie sich neben der Verbesserung des Vagus-Tonus auch positiv auf soziale Fähigkeiten auswirkt, während Yoga Menschen auch hilft, Ängste zu überwinden.”

Für vieles im Leben gibt es den richtigen Zeitpunkt. Viele Menschen haben immer zu einer bestimmten Zeit Hunger. Auch im Verlauf des Tages finden sich Abschnitte, die ganz unterschiedlich Einfluss auf das Befinden nehmen können. Mal ist die Lust auf Bewegung größer, mal die Konzentration besser. Selbst für die medizinische und pharmakologische Behandlung gibt es ideale Zeitpunkte – viele Medikamente sollten zu bestimmten Tageszeiten eingenommen werden, da in diesen Zeitfenstern die geringste Menge der Arznei die größte Wirkung hat – und die geringste Nebenwirkung. So kann die Dosis reduziert und können Nebenwirkungen minimiert werden. Sogar das Schmerzempfinden ist im Tagesverlauf unterschiedlich, was beispielsweise Zahnarztpatienten gewiss schon erfahren haben.

In wissenschaftlichen Beiträgen von Professor Moser findet sich die Aussage: “Rhythmus spart Kraft”. Obwohl sich die Lebensgewohnheiten in den letzten Jahren rasant verändert haben, sind die natürlichen Bedürfnisse des Körpers immer noch gleich. “Man muss sich bewusst machen, dass sich die ganze menschliche Entwicklung über Jahrmillionen in einem natürlichen Umfeld abgespielte. Früher, also bevor die Menschen in Häuser aus Stein und Beton zogen, lebten sie viel mehr mit den Rhythmen der Natur. Der Lauf der Jahreszeiten spielte eine viel größere Rolle in ihrem Leben. Die Anpassung an die Verhältnisse führte dazu, dass die äußeren Rhythmen vom menschlichen Organismus verinnerlicht und zu eigenen Rhythmen gemacht wurden”, schließt Professor Moser unseren Exkurs in die Chronobiologie ab.

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